Schatten über den Anfängen der documenta: Werner Haftmann in Italien 1936-1945

Gespräch

Der Kunsthistoriker und Mitbegründer der Kunstausstellung documenta war während der deutschen Besatzung in Italien am brutalen Partisanenkrieg beteiligt

 

Podiumsdiskussion mit Julia Voss (Moderation), Carlo Gentile und Thomas Gruber

21.09.2022 um 19:00 

Nach Anmeldung: prenotazione@casadigoethe.it

 

Sonderführer (Z) W. Haftmann (2 v. r.) mit dt. Offizieren und it. Geistlichen der Abtei Montecassino 1944 © Bundesarchiv

 

Die viel diskutierte, aktuelle documenta 15 gibt Anlass zu einem Blick auf die Entstehungsgeschichte der 1955 in Kassel erstmals eröffneten Weltkunstschau.

Die erst kürzlich aufgedeckte NS-Vergangenheit des Kunsthistorikers Werner Haftmann (1912-1999) wirft neue Fragen zu den Anfängen der Ausstellungsreihe auf. So wurden im Jahr 1955 hier zahlreiche Werke, die unter den Nationalsozialisten als „Entartete Kunst“ kategorisiert worden waren, ausgestellt. Haftmann, mit Arnold Bode die wichtigste Gründungsfigur der documenta, war nicht nur 1933 Mitglied der SA geworden und 1937 in die NSDAP eingetreten, auch war er 1944 als Soldat an der Jagd von italienischen Partisanen in der Toskana beteiligt und hat Folterungen beigewohnt. Gleichzeitig war er mit verschiedenen italienischen Intellektuellen aus dem antifaschistischen Einaudi-Kreis wie Cesare Pavese,  Giaime Pintor und Elio Vittorini befreundet. In der Nachkriegszeit galt Haftmann dann als einflussreicher Förderer von zeitgenössischer Kunst und seine NS-Vergangenheit wurde nicht weiter thematisiert.

Die Fragen, was Haftmann über seine eigene NS-Vergangenheit verschwieg, wie sein Netzwerk und seine Tätigkeiten in Italien aussahen und wie er als Kurator im westlichen Nachkriegsdeutschland Erinnerungspolitik betrieb, diskutieren die Historiker Carlo Gentile und Thomas Gruber im Gespräch mit der Kuratorin und Kunstkritikerin Julia Voss.

Die Veranstaltung bildet den Auftakt einer kritischen Auseinandersetzung mit deutschen Autor*innen, Künstler*innen und Kunsthistoriker*innen in Italien im 20. Jahrhundert an der Casa di Goethe. Ausgehend von der deutschen Italiensehnsucht nach Goethe wird dabei auch die deutsche Besatzung Italiens von 1943 bis 1945 in den Blick genommen.

Die Veranstaltung findet in italienischer Sprache statt.

Julia Voss ist promovierte Kunsthistorikerin, Mitarbeiterin im Präsidium des Deutschen Historischen Museums Berlin und Honorarprofessorin an der Leuphana Universität in Lüneburg. Bevor sie in die Wissenschaft wechselte, war sie stellvertretende Leiterin des Feuilletons der FAZ. Sie ist Co-Kuratorin der Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum (2021), die sich kritisch mit dem Einfluss der Politik auf die Weltschau in Kassel auseinandersetzt. Ihre 2020 veröffentlichte Biografie „Die Menschheit in Erstaunen versetzen: Hilma af Klint“ wurde ein SPIEGEL-Bestseller.

Carlo Gentile ist Historiker am Martin-Buber-Institut für Judaistik der Universität zu Köln mit Schwerpunkt Shoah in Italien. Seit 1998 Sachverständiger und Gutachter bei Strafverfahren wegen NS- und Kriegsverbrechen vor Gerichten in Deutschland, Italien und Kanada. Von der “Kommission des italienischen Ministerrates zur Auffindung der von den Nationalsozialisten 1943 in Rom geraubten Bibliothek der jüdischen Gemeinde” mit der Durchführung der Recherchen in Deutschland und in den USA beauftragt. Mitglied der Deutsch-Italienischen Historikerkommission und Autor zahlreicher Publikationen zu Kriegsverbrechen, Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg und Kriegsfotografie.

Thomas Gruber ist promovierter Historiker (Oxford) und arbeitet nach Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag und als Strategieberater seit 2017 als postdoctoral Fellow im Harvard University Center for Italian Renaissance Studies der Villa I Tatti in Florenz, das von Bernard Berenson gegründet wurde. Er beschäftigt sich u.a. mit Ideen- und Emigrationsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zum Thema „Florenz als Ort von Exil und Austausch zwischen 1918 und 1944“ baut er aktuell ein Forschungsprojekt an der Villa I Tatti auf.